Modern, aber ungerecht

Von Leo, Jolina, Daimon, Marc, Jonrike und Sarah

Die Welt, wie wir sie im Jahre 2040 kennen, hat sich von Grund auf verändert. Das alte Parteiensystem hat sich weitgehend aufgelöst. Die neugegründete Eine Große Partei (EGP) ernennt eine technokratische Regierung, die sich zu gleichen Teilen aus gewählten Volksvertretern und berühmten Wissenschaftlern zusammensetzt. Die Sozialhilfe wurde abgeschafft, das eingesparte Geld in den Klimaschutz gesteckt und gleichzeitig der Mindestlohn auf 10,54 Euro erhöht. Dadurch gibt es kaum noch Langzeit-Arbeitslose und Arbeiten lohnt sich mehr als früher.

Der Staat subventioniert zudem die beliebten Virtual-Reality-Brillen, die vor allem den in einfacheren Verhältnissen lebenden ärmeren Menschen eine Abwechslung von der realen Welt erlauben und so die Zufriedenheit mit dem aktuellen System erhöhen. Solange sie vier Stunden am Tag arbeiten, ist der Zugang zur aufregenden virtuellen Welt kostenlos. Den Rest der anfallenden Arbeit erledigen eh KI-gesteuerte Roboter. Nur die Tätigkeiten, die Roboter schlechter ausführen können oder aus Sicherheitsgründen besser nicht sollen, übernehmen die weniger Privilegierten. Von dieser gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung profitieren auch die wohlhabenderen Menschen, die – wenn überhaupt – nur freiwillig und ehrenamtlich „zur Arbeit gehen“.

Und doch sind Politiker auch jenseits der virtuellen Welt nicht unbeliebt. Immerhin muss jeder Politiker mehrere Praktika in verschiedenen Berufsfeldern absolvieren, bevor er einen Ministerposten übernehmen darf. So sind die Entscheidungsträger näher am Volk und verstehen die Menschen und ihre Bedürfnisse besser. Es ist mittlerweile selbstverständlich, auch in Form von Hologrammen regelmäßig in die Schulen zu kommen, um mit den Wählern von morgen ins Gespräch zu kommen. Um die Berufswahl frühzeitig vorzubereiten und Talente zu fördern, gibt es bereits in der ersten und vierten Klasse Tests, die ihre weitere Bildungslaufbahn bestimmen.

Das allgemeine Lebensniveau ist dank technischem Fortschritt hoch. Die Menschen bewegen sich entweder in fliegenden Wasserstoff-Autos fort oder per moderner und kostenloser Bahn. Die Menschen haben das Unterirdische als neuen Lebensraum für sich stärker erschlossen als zuvor. Neben Hausbooten haben vor allem unterirdische Wohnungen die Wohnungsnot beendet. Und auch unterirdisches vertical farming erzeugt genügend Lebensmittel, während der Platz von ehemaligen Ackerflächen für die Freizeitgestaltung zur Verfügung steht. Das politische System mag mangels Sozialstaatlichkeit nicht sonderlich gerecht und durch die starke Rolle nichtgewählter Experten auch nicht vollkommen demokratisch sein, doch durch den steigenden Wohlstand sind die Menschen dennoch zufrieden mit ihren bürgernahen Politikern.



Eine Szene, die sich im Jahre 2040 zugetragen hat…

1. Akt: In einem Technikgeschäft

 Handelnde Personen:

  • Herr Meier – Inhaber
    eines Virtual-Reality-Geschäfts  
  • Mr. Smith – Sicherheitsexperte
    des Innenministeriums  

Ein Mann in Anzug und Krawatte betritt das Spezialgeschäft „VoR everyone“, das modern eingerichtet und mit zahlreichen Sicherheitsvorkehrungen – wie Lichtschranken und Gepäckscanner – ausgestattet ist.

Mr. Smith: Hallo!

Herr Meier: Hallo! Wie kann ich Ihnen helfen?

Mr. Smith: Ich bin von der Virtual-Reality-Abteilung des Bundesinnenministeriums.

Herr Meier: Sehr schön, setzen Sie sich doch. Sie sind neu hier?

Mr. Smith: Ja, ich bin neu hier. Was haben Sie denn für mich?

Herr Meier: Wir haben weiterführende Versionen von den VR-Brillen. Im Jahr 2032 hatte uns ja die Regierung mit der Erforschung beauftragt. Nach mehreren Testläufen haben wir nun Modelle, die allen Anforderungen perfekt entsprechen. Da unsere Welt ja schrecklich aussieht und man hier kaum noch leben kann, sollten wir eine neue virtuelle Welt schaffen, die noch viel schöner und aufregender ist als das, was wir früher hatten – eine visuelle Verbesserung unseres Lebensniveaus. Das haben wir geschafft. Wer einmal in dieser virtuellen Welt war, der will nicht mehr zurück (grinst).

Mr. Smith: Und wer soll diese Brillen tragen?

Herr Meier: Wir haben mehrere Modelle. Einmal die normale Zivilistenbrille – in der neuen Version 2.0. Dann gibt es eine Variante für sehbehinderte Personen. Diese Brille funktioniert sogar für komplett blinde Personen.

Mr. Smith (schaut ungläubig die Brille an): Echt? Wie funktioniert die denn?

Herr Meier: Es gibt hier spezielle Sensoren, die Signale durch die Hirnrinde senden. Hunderte Lichtblitze erzeugen viele kleine Schatten bei den Blinden, die im Gesamtbild die Realität immer besser abbilden. Mittlerweile ist die Technologie so weit, dass die Schatten sich zu recht präzisen und kontrastreichen Bildern zusammensetzen. Wir arbeiten gerade mit Hochdruck an einer farbigen Version. Es gibt auch eine Version mit Lautsprechern, die die visuellen Effekte in Sprachhinweise übersetzen. Zu schnelle Reaktionen verwirren die Brille aber noch. Wir betrachten es als einsetzbare Prototypen, die bald ersetzt werden durch deutlich leistungsfähigere Modelle.

Mr. Smith: Ist ja spannend. Und hier gibt es ja noch ein drittes Modell. Was kann man damit sehen?

Herr Meier (schaut zufrieden): Ja, unser Sicherheitsmodell – mein ganzer Stolz. An sich ganz normal wie bei der Zivilistenbrille, aber mit einer viel besseren Optik, die die Welt in einem deutlich schöneren Licht erblicken lässt. Aber das ist nicht alles (blickt sein Gegenüber mit einem vielsagenden Lächeln an). Den Sicherheitsbeamten werden sofort zu einer sich nähernden Person Fahndungsfotos und persönliche Informationen „aufgescreent“. (schaut ernst) Auch sehr intime Daten von den Sicherheitsdiensten.

Mr. Smith: Die neue „Aufscreen“-Technologie ist schon echt eine praktische Sache. Vor allem für Polizisten.

Herr Meier: Genau, dafür sind sie auch gedacht.

Mr. Smith: Na gut, aber wir benötigen erst einmal etwas für die Bevölkerung, denn die Unzufriedenheit steigt. Diese Zivilistenbrille lenkt die Menschen ab von vielen – nun ja – Problemen, die wir noch nicht gelöst haben. Haben Sie denn genügend Exemplare dieser Zivilistenbrille?

Herr Meier: Na klar, wir haben genug, die LKWs laden gerade aus. Morgen kommt wieder eine Ladung. Warten Sie bitte, ich bringe sie Ihnen nach vorne.

Mr. Smith: Gerne, die nehme ich schon mal alle mit. Wir wollen sie kostenlos an die Bevölkerung verteilen. In den nächsten Tagen holen wir mehr.

Herr Meier: Das klingt gut. Ich bräuchte noch eine Unterschrift.

Mr. Smith unterschreibt, erhält die Lieferung und fährt davon.  


2. Akt: Am Stand vor dem „VoR Everyone“-Geschäft auf einer Flaniermeile

 Handelnde Personen:

  • Freddy – Chef der Sicherheitsfirma „Be Safe“  
  • Olli – Angestellter der Sicherheitsfirma „Be Safe“  
  • Blinder  

Freddy: Setzt euch mal, Jungs! Wir haben neue Brillen für euch. Das ist deine, Olli.

Olli: Ej, danke. Die sieht ja echt futuristisch aus. Was kann die denn so?

Freddy: Setz sie mal auf, du wirst staunen. Die kann so ziemlich alles (zwinkert ihm zu). Wenn du da durchschaust, dann macht die Arbeit wieder Spaß.

Olli (schaut durch und ist völlig überrascht): Wie geil! Jawoll, Freddy.

Freddy: Die hier ist übrigens für Blinde, die könnt ihr ja dann verteilen. Damit können die wieder sehen.

Olli: Da werden sie sich ja freuen.

Es kommt ein Blinder durch die Tür herein. Olli geht zu ihm.

Olli: Hallo, hören Sie, wir haben hier neue Brillen, wie es im Fernsehen angekündigt wurde. Sind Sie blind?

Blinder: Na hören Sie mal! Sind Sie etwa auch blind? (lacht laut) Klar, bin ich blind. Ich sehe nur Schatten.

Olli: Dann kann ich Ihnen helfen. Diese neue Brille wird Ihnen helfen. Hier, setzen Sie diese Brille mal auf!

Der Blinde setzt die Brille auf, sein Gesicht erstarrt und auf einmal strahlt er breit.

Blinder: Man, voll krass. Ich sehe ja wieder! Ich glaube es einfach nicht. Was kostet die denn?

Olli: Gar nichts. Das ist ein Geschenk der Regierung.

Blinder: Was, echt? Sauber. Danke schön! Diese Regierung werde ich wiederwählen. Die haben echt Licht in mein Leben gebracht (zwinkert Olli zu).

Der Blinde umarmt Olli noch spontan und geht jauchzend und voller Neugierde an seiner nun sichtbaren Umwelt davon.


3. Akt: Auf der Straße

 Handelnde Personen:

  • Sicherheitsbeamter  
  • Passant  
  • Kommissar  

Ein Mann stößt einen anderen Mann um und rennt davon. Dieser kommt mühsam wieder auf seine Beine, sucht vergeblich nach seinem Handy und schreit laut nach Hilfe.

Sicherheitsbeamter (eilt herbei): Moment, was ist passiert? Wurden Sie bestohlen?

Passant: Ja, mein Handy ist weg.

Sicherheitsbeamter: Ok, können Sie das bitte einfach der Polizei sagen? Moment, ich schalte die Kamera an. Schauen Sie mir einfach in die Augen.

Der Mann schaut in die Brille hinein, ein Bildschirm erscheint auf den Glasflächen und das Bild eines Polizisten erscheint.

Kommissar: Hallo! Wie kann ich Ihnen helfen?

Sicherheitsbeamter: Hallo, Herr Kommissar, hier wurde jemand gerade überfallen. Hier ist das Opfer.

Kommissar: Hallo, Sie wurden überfallen?

Mann: Ja, das war ich. Mein Name ist Gebri Alejassi, ich bin gerade frisch nach Deutschland gekommen.

Kommissar: Und wo ist die Straftat denn begangen worden?

Mann: Ich wurde im dritten Viertel überfallen, also in der realen Welt. Es ist schon echt schlimm hier (schüttelt seinen Kopf).

Kommissar: Dann schicke ich mal meine Kollegen Oliver Schubert und Karsten Heinrich los. Sie werden das Problem schon lösen.

Mann: Vielen Dank, aber bitte beeilen Sie sich!

Kommissar (zu seinen Kollegen): Olli, Karsti, los los, ihr müsst mal schnell ins dritte Viertel.

Die beiden nicken und machen sich auf den Weg. Wenig später melden sie, dass sie den Übeltäter gefasst haben.


4. Akt: Im Gerichtssaal

 Handelnde Personen:

  • Alexander Hold – Richter  
  • zwei Sicherheitsbeamte  
  • Max Hallerborn – Angeklagter  
  • Gebri Alejassi – Geschädigter  
  • Mike Sommer – Augenzeuge  

Der Gerichtssaal ist gefüllt, Richter Hold eröffnet mit ernster Stimme die Verhandlung.

Richter Hold: Heute findet die Verhandlung zur Straftat von Max Hallerborn statt. Ich würde gerne den Angeklagten hereinbitten.

Zwei Sicherheitsbeamte bringen Max Hallerborn in Handschellen hinein, lassen ihn setzen, nehmen ihm die Handschellen ab und setzen sich zu beiden Seiten neben ihn.

Richter Hold: So, jetzt bitte ich den Kläger und Geschädigten, Gebri Alejassi, sowie den Augenzeugen, Mike Sommer, hinein.

Gebri Alejassi betritt den Raum und setzt sich neben seinen Anwalt. Mike Sommer folgt ihm und setzt sich auf die gegenüberliegenden Seite.

Richter Hold (zum Angeklagten): Sie wissen ja, warum Sie hier sind. (zum Geschädigten) Wollen wir den Geschädigten mal nach dem Tatvorgang befragen. Bitte erzählen Sie, Herr Alejassi, was passiert ist!

Gebri Alejassi: Ich war gerade dabei, mein Geld aus der Tasche zu holen – mittlerweile verdiene ich ja recht gut – und dann wurde ich von hinten gestoßen und mir dabei mein Handy entwendet. Der freundliche Herr da drüben hat alles gesehen, die Polizei gerufen und meine Tatbeschreibung bestätigt.

Richter Hold (zum Angeklagten): Herr Angeklagter, haben Sie einen Anwalt oder wollen Sie sich selbst verteidigen?

Max Hallerborn: Ich habe keinen Anwalt.

Richter Hold: Wollen Sie sich etwa selbst verteidigen?

Max Hallerborn: Hmm, weiß ich gar nicht so recht. Im Prinzip brauche ich keinen Anwalt. Ich war’s, ich gebe es zu. Die Beweislast ist ja erdrückend.

Richter Hold: Das ist aber nicht sehr schlau von Ihnen. Sind Sie sich da sicher? (Max Hallerborn nickt) Nun gut, mir soll es recht sein. Hören Sie zu, wenn Sie mit uns weiter kooperieren, können wir auch die Strafe reduzieren. Sie könnten uns mehr über Ihre Netzwerke berichten.

Max Hallerborn: Was habe ich denn schon zu verlieren in dieser realen Welt? Gut, ich kooperiere. Was wollen Sie denn wissen?

Richter Hold: Dieses Gespräch werden Sie mit dem Kommissar unter Verwendung eines Lügendetektors führen. Unter der Auflage einer lügenfreien Kooperation verurteile ich Sie zu einer Strafe von drei Monaten ohne VR-Brille.

Der Unterschied zwischen real und virtuell

Max Hallerborn (völlig überrascht und aufgebracht): Was? Sooo lange? Aber ich kooperiere doch. Ich dachte, die Strafe reduziert sich.

Richter Hold: Ohne Kooperation hätte ich Sie zu sechs Monaten verurteilt.

Max Hallerborn: Haben Sie die Welt draußen überhaupt gesehen?

Richter Hold: Selbstverständlich. Ich sehe sie, wenn ich meine Brille absetze. Ich muss das Strafmaß doch kennen, bevor ich meine Urteile fälle (zwinkert ihm zu). Sie müssen sich damit abfinden. Wer nicht klaut, der muss auch nicht auf seine VR-Brille verzichten. So einfach ist das. Strafe muss sein.

Max Hallerborn (den Tränen nah, seine Stimme bebt): Das ist echt hart, so eine harte Strafe hätte ich nie erwartet.

Ein Sicherheitsbeamter nimmt ihm die VR-Brille ab, der Verurteilte sieht sich geschockt in der Umgebung um und wird abgeführt.