Die genetische Demokratie

Zeitreise-Bericht der Klassen 10a, b und c des Paul-Gerhardt-Gymnasiums in Gräfenhainichen vom 30. Juni bis 1. Juli 2022

Ein Bericht einer Schülerin zu diesem Workshop findet sich hier.

Deutschland im Jahr 2045

Die Gesellschaft der Zukunft hat es geschafft, dass sich die Bevölkerung rundum wohlfühlt: Chancengleichheit und allgemeine Gleichbehandlung aller Menschen sind zu wichtigen Merkmalen des Zusammenlebens geworden. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ist hoch und die Menschen haben das Gefühl, an den politischen Entscheidungen mitwirken zu können.

Grund für die hohe soziale und wirtschaftliche Gleichheit sind eine Reihe von politischen Maßnahmen, die in den letzten Jahren ergriffen worden sind: So wurde das Bildungssystem mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattet und leistungsfähiger gemacht. Privatschulen existieren nicht mehr und alle Kinder lernen an modernen und digitalisierten, staatlichen Bildungseinrichtungen. Die Gesundheitsversorgung ist umfassend und für alle Menschen kostenfrei, private Zusatzversicherungen wurden abgeschafft.

Die Vermögensverteilung wurde durch die weitgehende Angleichung der Einkommen in verschiedenen Berufen sowie die Einführung einer Erbschaftssteuer deutlich gerechter gestaltet. Selbst wer nicht arbeiten kann, wird durch ein bedingungsloses Grundeinkommen gut versorgt. Die sozialen Versorgungssysteme sind deutlich verbessert worden und öffentliche, kostenlose Verkehrsmittel wie der „Fair Train“ wurden so stark ausgebaut, dass niemand mehr mit dem Auto fährt. Das hatte nicht nur zur Folge, dass die Straßen in den Städten zurückgebaut und begrünt werden konnten, sondern auch große Fortschritte im Kampf gegen den Klimawandel gemacht worden sind. Nur wenige Leute essen noch Fleisch oder tierische Produkte, der größte Teil der Bevölkerung lebt vegan.

Ursache für die Umsetzung all dieser Maßnahmen ist der Umstand, dass seit einigen Jahren über die wichtigsten politischen Entscheidungen per Volksabstimmung entschieden wird. Öffentliche Medien stellen sicher, dass im Vorfeld der Volksabstimmungen ausgewogen und differenziert über die jeweiligen Sachverhalte informiert wird. An der konkreten Ausgestaltung von Gesetzen können alle Bürger in digitalen Beteiligungsverfahren mitwirken. Doch auch technische Neuerungen spielen eine Rolle bei der niedrigen sozialen Ungleichheit: Durch Fortschritte bei der Gentechnologie, insbesondere durch die CRISPR-Genschere, sind Erbkrankheiten so gut wie verschwunden. Außerdem ist es üblich, dass Babys so modifiziert werden, dass es kaum noch Unterschiede bei Aussehen und Intelligenz der Menschen gibt. Ethisch höchst umstritten ist der neuste Trend, Kinder direkt am Computer zu designen und dann durch biologische 3D-Drucker herzustellen.



Eine Szene, die sich im Jahre 2045 zugetragen hat…

1. Akt: Die 8-Uhr-Nachrichten

 Handelnde Personen:  

  • Gailana Schröder (Nachrichtensprecherin)  
  • Fernsehzuschauer  

Nach einem kurzen, nicht zu anstrengenden Arbeitstag kommt ein Mann nach Hause und setzt sich auf sein Sofa.

Fernsehzuschauer: Eigentlich könnte ich auch mal wieder Fernsehen gucken. Mal sehen, was heute Abend so läuft.

Er schaltet den Fernseher ein. Gerade beginnen die Abendnachrichten.

Gailana Schröder: Guten Abend meine Damen und Herren, mein Name ist Gailana Schröder und das sind die 8-Uhr-Nachrichten. Unser erstes Thema ist die Quick-Democracy-App: Vergangene Nacht hat die Quick-Democracy-App ein neues Update erhalten. Das neuste Feature ermöglicht es jetzt jeder Person, direkt mit den verantwortlichen Politikern in unserem Land zu chatten.

Fernsehzuschauer: Wow, das ist ja wirklich mal eine nützliche Neuerung!

Der Mann holt sein Smartphone aus der Tasche und öffnet die Quick-Democracy-App. Er will gerade auf das neue Feature klicken, als die Nachrichtensprecherin im Fernsehen ihre Ansage unterbricht.

Gailana Schröder: Und gerade erreicht uns eine Eilmeldung. Einen Moment bitte… Gerade erreicht uns die Nachricht, dass unsere Ex-Kanzlerin Ludovica Müller schwer gestürzt ist. Sie wird in dieser Sekunde mit dem Fair Train in ein nahegelegenes Krankenhaus gebracht. Wir drücken natürlich die Daumen und hoffen, die Ärzte können Schlimmeres verhindern.

Und damit zurück zu unseren Meldungen: Die jüngste Statistik aus dem Gesundheitssystem zeigt, dass sowohl die Sterbe- als auch die Geburtenrate erneut stark zurückgegangen ist. Die Menschen werden immer älter, gleichzeitig wollen immer weniger Menschen Kinder bekommen. Deswegen arbeiten Forscher weiter mit Hochdruck an dem umstrittenen Verfahren, Kinder in Zukunft künstlich mit dem 3D-Drucker herzustellen. Den kontroversen Trend werden wir später in der Sendung noch einmal näher beleuchten.

Vorher möchten wir uns jedoch noch einmal mit der Quick-Democracy-App beschäftigen. Schalten wir dazu nun zu unserer Korrespondentin, die live aus der Innenstadt berichtet.


2. Akt: Live aus der Innenstadt

 Handelnde Personen:  

  • Gailana Schröder (Nachrichtensprecherin)  
  • Capilain Meier (Korrespondentin)  
  • Frau Schmitt (Passantin)  
  • Frau Ingwa (Passantin)  

Die Kamera schaltet in die begrünte Innenstadt, aus der die Korrespondentin Capilain Meier live von der Straße berichtet.

Capilain Meier: Vielen Dank, Gailana. Die Quick-Democracy-App existiert inzwischen seit 15 Jahren. Damit wird die rege Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Politik bewirkt. So wurden zum Beispiel Gesetze wie das zum gleichen Einkommen für alle oder dem bedingungslosen Grundeinkommen beschlossen. Das hatte zur Folge, dass die Schere zwischen Arm und Reich geschlossen und Obdachlosigkeit effektive bekämpft werden konnte. Anlässlich des neuen Updates für die Quick-Democracy-App habe ich zwei Passanten bei mir, die ich fragen möchte, wie sie die App persönlich finden.

Die Kamera zoomt ein Stück heraus und nimmt zwei Frauen mit ins Bild, die neben der Korrespondentin stehen.

Capilain Meier: Frau Schmitt, was halten Sie von der Quick-Democracy-App?

Frau Schmitt: Also ich finde die App sehr gut. Wir können dadurch in der Politik mitentscheiden und unsere Meinung einbringen.

Capilain Meier: Das sind natürlich sehr positive Aspekte. Habe Sie denn auch konkret an Gesetzen mitgewirkt?

Frau Schmitt: Ja, an einer ganzen Menge sogar. Vor allem am Gesetz zur Einkommensgleichheit. Das war mir persönlich äußerst wichtig, damit wir dafür sorgen, dass die Schere zwischen Arm und Reich geschlossen wird.

Capilain Meier: Das ist interessant, danke für Ihren Beitrag. Frau Ingwa, wie finden Sie die Quick-Democracy-App?

Frau Ingwa: Also ehrlich gesagt habe ich schon auch immer wieder meine Bedenken. Ich weiß, die App ist super und ich habe auch an einigen Abstimmungen und Gesetzen mitgewirkt. Aber bestimmt kann die App doch auch gehackt werden!

Capilain Meier: Das ist natürlich eine bekannte Sorge. Immerhin ist die App über das Internet für alle zugänglich und technisch sehr komplex. Doch die Democracy-Now-App verfügt heute über die höchsten Sicherheitsstandards. Dadurch, dass beispielsweise alle Passwörter jeden Monat mindestens fünf Mal geändert werden, kann die App nur extrem schwer gehackt werden. Und damit zurück ins Studio zu meiner Kollegin Gailana Schröder.

Die Kamera schaltet zurück ins Studio der 8-Uhr-Nachrichten zu Nachrichtensprecherin Gailana Schröder.

Gailana: Vielen Dank für diesen Beitrag, Capilain. Und nun zur umstrittenen Praxis des Baby-3D-Drucks. Dazu schalten wir ins städtische Krankenhaus zu unserer Korrespondentin Linda Ingebruck.


3. Akt: Live aus dem Krankenhaus

 Handelnde Personen:  

  • Gailana Schröder (Nachrichtensprecherin)  
  • Linda Ingebruck (Korrespondentin)  
  • Herr Dr. Schulz (Arzt)  
  • Frau Bernhardi (Patientin)  

Die Kamera schaltet in ein Krankenhaus, in dem Korrespondentin Linda Ingebruck in einem weißen Kittel steht.

Linda Ingebruck: Vielen Dank, Gailana. Ich stehe hier mit dem Arzt Herr Dr. Schulz, Arzt sowie Frau Bernhardi, die im Krankenhaus in Behandlung ist und sich ein Baby aus dem 3D-Drucker wünscht.

Die Kamera zoomt heraus und nimmt den Arzt und die Patientin ins Bild, die neben Linda Ingebruck stehen.

Linda Ingebruck: Herr Dr. Schulz, Sie sind einer der führenden Experten beim genetischen Eingriff in die DNA von Ungeborenen. Ordnen Sie für uns doch einmal ein, was die Genmanipulation von Ungeborenen aus Ihrer Sicht bewirkt hat.

Herr Dr. Schulz: Aber gern doch. Dadurch, dass wir die DNA von Ungeborenen in einem sehr frühen Stadium beeinflussen können, haben wir die Bevölkerung in Hinsicht auf äußerliche Attraktivität, körperliche Leistungsfähigkeit und Intelligenz stark angeglichen. Wir können heute an der jungen Bevölkerung bereits sehen, dass soziale Unterschiede durch diese Angleichungen stark zurückgegangen sind. Das ist zweifellos ein Erfolg der genetischen Eingriffe. Außerdem konnten wir nahezu alle Erbkrankheiten ausmerzen und so dafür sorgen, dass niemand mehr wegen anfälliger Gene benachteiligt wird oder kürzer leben muss. Auch das ist zweifelsohne ein Erfolg.

Linda Ingebruck: Vielen Dank für diese Erklärung. Aber warum ist dann der Trend zu künstlich geschaffenen Babys aus dem 3D-Drucker so groß?

Herr Dr. Schulz: Die hohe Lebenserwartung und der hohe Wohlstand führen dazu, dass sich viele Frauen die Mühen einer Schwangerschaft nicht mehr antun wollen. Das ist sozusagen das paradoxe Resultat der großen Erfolge der genetischen Eingriffe bei Ungeborenen: Vielen Menschen geht es so gut, dass herkömmliches Kinderkriegen aus der Mode kommt oder viele Menschen aufgrund der hohen Lebenserwartung ihre Familienplanung immer weiter nach hinten schieben.

Linda Ingebruck: Das neue Verfahren, Babys aus dem biologischen 3D-Drucker zu bekommen, sorgt auch für viel Kritik. Viele Menschen sagen, wir würden die Natur endgültig hinter uns lassen oder befürchten, künstlich geschaffene Kinder hätten nicht die gleiche Verbindung zu ihren Eltern wie natürlich gezeugte Kinder. Auch die Gefahr, dass wir unsere genetische Vielfalt verlieren könnten, steht im Raum. Eine endgültige demokratische Entscheidung, ob das Verfahren erlaubt bleiben oder verboten werden soll, ist für nächstes Jahr angekündigt. Bei mir ist nun Frau Bernhardi, die sich gegen eine natürliche Schwangerschaft und für ein Baby aus dem 3D-Drucker entschieden hat. Frau Bernhardi, was hat sie zu dieser Entscheidung gebracht?

Frau Bernhardi: Ich sehe den 3D-Druck von Kindern als den nächsten Schritt zu noch mehr sozialer Gleichheit in unserer Gesellschaft. Frauen werden nicht mehr durch Schwangerschaften in ihren Karrierechancen benachteiligt und stehen nicht mehr vor den Risiken einer natürlichen Geburt. Außerdem ist es einfach viel bequemer, stressfreier und entspannter. Auch das Alter spielt keine Rolle mehr: Ich bin fast fünfzig Jahre alt und könnte auf natürlichem Weg wahrscheinlich kein Kind mehr bekommen. Mit dem neuen Verfahren ist das überhaupt kein Problem. Außerdem sind die Kinder, die künstlich designt und erzeugt werden, sich noch viel ähnlicher als die genetisch angepassten Ungeborenen, die heutzutage zur Welt kommen. Auch das ist ein großer Fortschritt. Ich denke, das Verfahren ist die Zukunft und ich bin froh, zu den Vorreitern zu gehören.

Linda Ingebruck: Vielen Dank für diese Einblicke, Frau Bernhardi. Mit diesen Eindrücken zum kontroversen 3D-Druck von Babys gebe ich zurück ins Studio zu Gailana Schröder.

Die Kamera schaltet zurück zur Nachrichtensprecherin Gailana Schröder.

Gailana Schröder: Liebe Linda, ich danke dir für diesen spannenden Bericht. Ich denke, es ist klar geworden, dass es sich beim neuen Trend zu künstlich designten und erzeugten Babys um ein sehr umstrittenes Verfahren handelt. Liebe Zuschauer, seien sie versichert, dass wir auch in Zukunft ausgewogen und differenziert über das Thema berichten werden. Damit sind wir am Ende der 8-Uhr-Nachrichten angelangt. Schalten Sie auch beim nächsten Mal wieder ein! Auf Wiedersehen.


Redaktion: km