Demokratie vor dem Abgrund

Headway, 9. November 2040. ‚Arm oder reich – alle sind gleich!‘ schreien die Demonstranten auf der Einkaufsmeile vor dem Green Park. Im Hintergrund leuchten die Fassaden der Forschungsgebäude, während sich eine lange Schlange von Hovercars vor der Einkaufsmeile bildet. Sie alle hören zu, als die Blue & Brown (B&B) ihre Flaggen aus Protest gegen die Regierung hissen und ihre Anführerin die Stimme erhebt.

Wie es dazu kam? In den 2020ern eskalierten die Fronten zwischen der AfD und den Grünen, als die große Flüchtlingswelle infolge zunehmender Naturkatastrophen aus den USA kam. Die Wirtschaft drohte zu kollabieren und die bestehenden Parteien schienen nicht den Mut für einen radikalen Wandel zu finden. So entstanden die Wirtschaftsfördernde Partei (WfP) und die Fortschrittspartei (FP). Sie führten die Stadt Headway aus dem Ruin – zum größeren Vorteil der einen und zum kleineren Vorteil der anderen. Die Schere zwischen Arm und Reich glitt auseinander wie nie zuvor. Über die Jahre verstärkte sich die Teilung und es bildeten sich grob drei Schichten heraus – die Entscheidungselite der WfP und der FP, die Vermögenden und die breite ärmere Bevölkerung. Die Unterschiede zwischen den ehemaligen politischen Rivalen WfP und FP verwischten über die Jahre in der gemeinsamen Großen Koalition.

Mittlerweile beginnen sich die Menschen jedoch zu fragen, warum sie das System weiter tolerieren sollen. Je größer die Einkommensunterschiede, desto mehr Abneigung bildet sich gegenüber den Politikern, die nichts dagegen zu unternehmen scheinen. Im Armenviertel ist alles schlammig, die medizinische Versorgung reicht nur für das Nötigste und die Größe einer durchschnittlichen Wohnung ist kaum noch menschenwürdig. Die arbeitende Bevölkerung fährt mit Zügen, die stets überfüllt und stickig sind. Die Reichen besitzen zwar Hovercars und arbeiten an der weiteren Erforschung von Künstlichen Intelligenzen in Laboren. Doch täglich sehen sie die ärmeren Menschen, haben mit ihnen Mitleid und hinterfragen den eigenen Fortschrittsglauben. Hieß es nicht einmal, irgendwann könne jeder unter guten Bedingungen und vor allen Dingen viel weniger arbeiten als zuvor? Warum gilt das allenfalls für einige wenige Menschen, obwohl die Künstliche Intelligenz und Robotik doch so fortgeschritten sind?

Keiner wird vergessen oder leugnen, dass es letztlich die beiden Regierungsparteien waren, die Headway mit ihrem klugen wirtschaftspolitischen Kurs gerettet und eine Massenverelendung verhindert haben. Doch gibt dies der Regierung auf Dauer das Recht, ihre Politik im Geheimen zu beschließen, die Menschen zu belügen und sie ohne Skrupel auszubeuten? Die Antwort der stetig wachsenden Protestbewegung B&B lautet eindeutig: Nein!



Eine Szene, die sich im Jahre 2040 zugetragen hat…

1. Akt: Zu Hause vor dem Fernseher

 Handelnde Personen:

  • Paula – 10-jährige Fernsehzuschauerin  
  • Martin – Paulas Vater  
  • Trixi – Nachrichtensprecher des Kinderkanals  
  • Margarete Stoch – Nachrichtensprecherin
    von Headway aktuell  
  • Karl Karlsberg – Vorsitzender der WfP  
  • Thomas Therig – Vorsitzender der FP  

Die 10-jährige Paula schaltet den Fernseher an und landet bei einer Nachrichtensendung auf dem Kinderkanal.

Trixi: Hi, hier ist wieder eure Trixi. Wie ihr vielleicht schon gehört habt, ist heute das 20-jährige Jubiläum unserer Stadt Headway. Diese möchte ich euch heute etwas genauer erklären. (zeigt auf ein buntes Hologramm)

Politikerviertel

Hier oben wohnen unsere Politiker, die wirklich immer nur Gutes wollen für unsere Bürger und dafür die ganze Zeit im Parlament arbeiten. Dank der Teleporter sind sie immer für uns da. Sie können sich ganz schnell von einer Stelle zur anderen „beamen“. Praktisch, oder?

Reichenviertel

Etwas weiter leben die etwas Wohlhabenderen, die sich einer fortgeschrittenen medizinischen Versorgung erfreuen können. Sie leben in Einfamilienhäusern und fahren mit ihren Hovercars zur Arbeit.

Armenviertel

Auf der anderen Seite leben Menschen, die nicht ganz so viel verdienen und sich so leider nicht alles leisten können. Sie fahren mit Zügen zur Arbeit, die oft überfüllt sind. Aber naja, (schaut etwas abfällig) letztlich sind sie selbst schuld. (schaut auf einmal, als hätte sie das besser nicht sagen sollen)

schöne neue Arbeitswelt

Aber das ist ja nicht so wichtig, entscheidend ist unsere Arbeitswelt, und die ist sehr sehr schön (grinst breit in die Kamera). Hier arbeiten die Ärmeren und Reicheren nebeneinander. Hier gibt es auch tolle Läden, die allerdings nicht ganz billig sind (zwinkert). Hier gibt es viele Parks, Flüsse und Bänke. Herrlich!

Paula: Ach, so ist das. Ich will auch mal dort arbeiten!

Paula schaltet neugierig weiter und landet bei den Nachrichten des ersten staatlichen Senders.

Margarete Stoch: Guten Abend, meine Damen und Herren! Willkommen bei Headway aktuell. Heute mit Margarete Stoch. Pünktlich zu unserem 20. Jubiläum am heutigen Tag, dem 9. November 2040, möchte ich Ihnen aufzeigen, wie es zu unserer neuartigen Demokratie kam. Vor 20 Jahren, also damals im Jahr 2020, gab es eine ernsthafte Wirtschaftskrise in den USA. Der damalige Präsident Donald Trump verbot den Import und Export jeglicher Waren mit anderen Staaten. Dementsprechend sanken die Auslandsexporte und die Wirtschaft stagnierte, die Menschen verloren ihre Arbeit und einheimische Unternehmen konnten noch weniger verkaufen. Immer mehr US-Amerikaner wanderten aus und kamen in unsere Stadt, da unser hoher technologischer Standard und unsere allbekannte Weltoffenheit auch der Mentalität der zugewanderten Amerikaner „vom alten Schlag“ (zwinkert) sehr entgegenkam.

Paula wundert sich, was die Nachrichtensprecherin mit „altem Schlag“ genau meint, und hört den Nachrichten weiter zu.

Margarete Stoch: Die AfD und die linken Parteien stritten sich, ob „die Ausländer“ bzw. „unsere amerikanischen Freunde“ nun einwandern dürften oder nicht. So zerbrachen die beiden Parteien, die damals in den Umfragen vorne lagen. Aus dieser zersplitterten Parteienlandschaft ohne große Volksparteien entstanden die Fortschrittspartei (FP) und die Wirtschaftsfördernde Partei (WfP). Während die eine in die Erforschung von Zukunftstechnologien investieren wollte, warb die andere für die Verbesserung des eigenen Wirtschaftsstandorts. Dafür wurde der Sozialstaat geopfert. Aber (macht eine künstliche Pause und setzt einen ernsthaften Blick auf) dafür hat die Koalition dieser beiden Parteien unsere Stadt vor dem Ruin gerettet. In unserer Sondersendung um 21:00 Uhr wollen diese beiden Parteien ihre Wahlprogramme vorstellen und erläutern. Dazu laden wir Sie herzlich ein!

Paula nickt zufrieden, ist aber mittlerweile müde geworden und schaltet den Fernseher aus. Sie schläft auf dem Sofa ein. Paula wacht ruckartig auf. Ihr Vater Martin ließ sich allzu arg ins Sofa fallen und macht den Fernseher wieder an. Paula murrt, aber schaut dann doch wieder gebannt auf den Bildschirm. Dieses Mal wird eine Sondersendung mit den beiden Vorsitzenden der Regierungsparteien ausgestrahlt.

Margarete Stoch: Herzlich willkommen zu unserer Sondersendung am 9. November 2040. Ich habe heute die Ehre, die beiden Parteivorsitzenden der WfP und der FP zu begrüßen. Herr Karlsberg und Herr Therig, herzlich willkommen hier im Studio (die beiden nicken freundlich). Wir beginnen mit Herrn Karlsberg von der WfP – bitte erläutern Sie uns doch, welche Vorhaben Sie im Falle eines Wahlerfolgs umsetzen wollen!  

Karl Karlsberg: Wir von der WfP stehen für Wirtschaftsförderung und Expansion. Wir wollen die Forschung voranbringen und unseren Wohlstand steigern. Mehr Fabriken, mehr Investitionen. Wir müssen langfristig denken!

Margarete Stoch: Vielen Dank! Nun Herr Therig von der FP, was planen Sie fürs nächste Jahr im Falle einer Regierungsbeteiligung?

Thomas Therig: Die FP hat in den vergangenen Jahren für Fortschritt und Verbesserungen in der Industrie gesorgt. Wählen Sie die FP und wir sorgen für Ihr Wohl. Sollten wir von der FP die Regierung stellen, dann schaffen wir neue Arbeitsplätze, insbesondere im Bereich der Erforschung der künstlichen Intelligenz – damit unser Wohlstand auch langfristig gesichert ist.

Margarete Stoch: Herzlichen Dank, meine Herren. Und damit enden wir mit unserer Sondersendung. Ich wünsche Ihnen allen noch einen schönen Abend!

Paula (macht enttäuscht den Fernseher aus): Warum gibt es eigentlich noch zwei Parteien? Sie sagen doch exakt dasselbe! Warum nennen wir uns noch Demokratie?

Paulas Vater zuckt mit den Schultern und verlässt gelangweilt das Wohnzimmer in Richtung Bad.


2. Akt: Auf einem Fabrikgelände

 Handelnde Personen:

  • Sophie – Fabrikarbeiterin  
  • Emma – Fabrikarbeiterin  
  • Marlene – Abteilungsleiterin  
  • Prof. Dr. Anne Collin – Leiterin
    des Forschungszentrums  

Sophie schraubt am neuen Prototyp eines humanoiden Roboters und Emma poliert bereits die Rückseite. Marlene, die Abteilungsleiterin, betritt den Raum.  

Marlene: Wie steht es mit dem neuen Prototyp?

Emma: Nur noch wenige Handgriffe und wir sind fertig.

Marlene (nickt zufrieden): Gut, dann werde ich jetzt die Professorin holen.

Fabrikgelände

Marlene verlässt den Raum und kommt kurze Zeit später mit der Professorin zurück.

Marlene: Frau Prof. Collin, der neue Prototyp ist bereit.

Prof. Dr. Anne Collin: Na, das werde ich mir gleich mal ansehen. Gehen Sie doch zur Seite! (sie hält ein Gerät an und es piept und fiept) Sehr gute Leistung, das können wir gleich ins Forschungszentrum bringen. Tragen Sie es bitte für mich rüber.

Prof. Dr. Collin verlässt den Raum, kurz später folgen ihr Sophie und Emma mit dem Prototyp in ihren Händen.


3. Akt: Auf der Einkaufsmeile

 Handelnde Personen:

  • Greta Grün – Initiatorin der
    Demonstration und Aktivistin von B&B  
  • Demonstranten  
  • Sieglinde Schwarz – Reporterin
    des Jugendmagazins „Jetzt!“  

Dutzende von Menschen demonstrieren, halten ihre Plakate in die Höhe und blockieren die Straße. Eine lange Schlange von Hovercars bildet sich auf der Einkaufsmeile. Sie hören jedoch alle interessiert zu, als die Gruppe „Blue & Brown“ (B&B) ihren Protest gegen die sogenannten „Roten“ – der FP und der WfP – erhebt. Die Initiatorin Greta Grün beendet soeben ihre Rede.

Greta Grün: Arm oder Reich? Alle sind gleich!

Demonstranten (in Sprechchören): Arm oder Reich? Alle sind gleich! Arm oder Reich? Alle sind gleich! Arm oder Reich? Alle sind gleich!

Greta Grün verlässt die Bühne. Sieglinde Schwarz, Reporterin des einflussreichen Jugendmagazins „Jetzt!“, bittet um ein Interview.

Demonstration der B&B

Sieglinde Schwarz: Warum sind Sie hier?

Greta Grün: Ich will die Politik der beiden Regierungsparteien stoppen.

Sieglinde Schwarz: Und warum lehnen Sie deren Wahlprogramme ab?

Greta Grün: Ich lehne sie nicht wegen der Wahlprogramme ab, sondern weil sie ihre Ziele nicht einhalten und nichts für uns Bürger tun.

Sieglinde Schwarz: Und warum ist die Gruppierung B&B besser?

Greta Grün: Na, wir wollen eine friedliche Revolution! Das Volk soll sich wieder selbst regieren.

Sieglinde Schwarz: Oh, verstehe. Dann vielen Dank für das Interview!

Greta Grün mischt sich wieder unter die Menschenmasse und ruft die Sprechchöre mit.